Ansichten eines Akteurs
Aus dem Leben eines Nikolaus
Geschrieben am 10.12.2018
Über viele Jahre hinweg durfte ich die Position des heiligen Nikolaus rund um den sechsten Dezember übernehmen. Ich spreche hier bewusst nicht von einer Rolle und freilich nicht von einer Figur, da diese Begriffe dem Amt und der Bedeutung des Nikolaus nicht gerecht würden. Dass ich keinen Weihnachtsmann darstellte, erklärt sich freilich von selber. Bischofsmütze, Gewand, Stab und Buch verleihen dem Nikolaus eine besondere Autorität und sie erzeugen leuchtende Kinderaugen. Für sie erscheint da kein Bischof und kein Heiliger, sondern der vorweihnachtliche Wundermann mit Tadel, Lob und Gaben. Die Verantwortung, die man dabei trägt, ist genauso wenig zu unterschätzen wie der Zeigefinger, den man auf Wunsch vieler Eltern und Erzieher heben soll und den der Nikolaus dosiert und bewusst einsetzt. Dafür wird er mit respektvoll aufschauenden und zuhörenden Kindern belohnt. Und mit dem Glauben. Wenn Kinder an dich als Nikolaus glauben, dann spielst du nichts, dann musst du diese Position mit Verantwortung füllen, damit der Glaube besteht. Übrigens auch von den Erwachsenen. Über Jahre hinweg durfte ich diese schöne und wichtige Position im Kindergarten in Partenkirchen einnehmen. Mein älterer Vorgänger fühlte sich nicht mehr sicher genug auf den Füßen, das Lesen aus dem goldenen Buch bereitete ihm Mühe und das Wuseln von zwanzig Vierjährigen, die das Kommen des heiligen Mannes gar nicht erwarten können, strengte ihn immer mehr an. Er wollte deshalb den Stab an einen jüngeren Nachfolger übergeben, im ersten Jahr aber traten wir gemeinsam an, damit ich eingewiesen und angeleitet werden konnte. Dabei musste tunlichst vermieden werden, dass wir zusammen im Kindergarten gesehen werden, schon gar nicht in Bischofsrobe, würde doch der Anblick eines doppelten Nikolaus so einen kleinen Steppke mehr als verwirren, musste er sich doch - trotz seines geringen Alters – von einer Vielzahl von Nikoläusen und Weihnachtsmännern im Fernsehen, im Kaufhaus, daheim und überall entgegen stellen. Schon aus meiner Kindheit wusste ich noch, dass die Unterschiede bei Handschuhen, Ringen, bei der Bischofsmütze, dem Stab, dem Sack mich damals zunächst verwirrten, mich später zu detektivischen Überlegungen verleiteten, die bald darauf zu einer traurigen, jedoch obligatorischen Erkenntnis des Falles führen sollten.
Das wollten wir als Nikoläuse im Kindergarten tunlichst vermeiden. Wir teilten uns also die Stockwerke auf, der erfahrene Nikolaus ging zu den ganz Kleinen, den Zwergen aus der Kindertagesstätte, denen der große, mächtige Nikolaus noch nicht persönlich begegnen darf, hatten sie doch vor Bart und Mantel und Stab und vor allem vor der sonoren, tiefen Stimme meines Lehrmeisters noch zu viel Respekt und kein Nikolaus wünscht sich den Anblick von gut einem Dutzend weinender Kleinstkinder, denen er doch nur etwas Gutes bescheren will. Deswegen ging hier der Nikolaus nur gemessenen Schrittes an der geöffneten Zimmertür vorbei. So konnten sie ihn im Gehen erahnen, hinaus spitzen, fürchteten sich aber nicht. Er ließ dabei einen Gabensack stehen, den die vertrauten Fräuleins dann mit den Kleinsten gemeinsam öffneten.
Mir wurde von der Kindergartenleiterin zunächst meine Robe - nicht mein Kostüm - angelegt. Als Leihgabe der Klosterbrüder von Ettal durfte ich in ein helles Messgewand steigen, einen ordentlich gebügelten roten und mit goldenen Borten eingesäumten Mantel überstreifen, bevor es an Bart und Brille ging. Das kritische Lächeln von der Leiterin Frau Meier aber verzögerte die endgültige Verwandlung.
Na, so a Krisperl derf da Nikolaus ned sein. Du bist zu mager für an heiligen Mo. < Prompt wanderten zwei Kissen mit Stricken unter das Messgewand, was mein gütig grinsender Vorgänger nicht benötigte. Mit dem Gürtel über der Robe, an dem zwei Kordeln baumelten, entstand so ein prächtiger Bauch und es wurde bereits empfindlich wärmer unter den vielen Schichten. Dies sollte nicht besser werden, als die grau silberne Haarpracht meinen Kopf bedeckte und der lange Rauschebart angelegt wurde. Damit nichts verrutschte oder sich verzog, wurde alles mit der hohen Bischofsmütze und einer goldenen, aber glaslosen Brille zusammengehalten, gesteckt und dank mehrerer Gummibänder fixiert. Jetzt war es wirklich warm im Inneren des Heiligen und ich schwitzte wie in einem Glühweintopf. Nichtsdestotrotz kamen nun noch die weißen Handschuhe mit den breiten Bischofsringen, die so schön funkeln, wenn man das goldene Buch aufschlägt. Über den Sinn der Handschuhe wurde ich sogleich von meinem Nikolauslehrer aufgeklärt:
De ghearn dazu. De miasn sei. Ah wenn des Umbladdln damit ned leichter werd. Wennst aber den erste Dutzel von so am kloana Madl oder am Buam griagst, der so richtig schee ogschnult ist, dann bist froh, dass‘d Handschuh ohast. <
Er sollte recht behalten und die Vielzahl an Schnullern, die im Kindergarten dem Nikolaus mitgegeben werden, weil die nimmer so Kleinen ihm versprechen, dass sie den Schnuller jetzt nimmer brauchen, weil sie schon groß sind, sollte beträchtlich sein. Der ein oder andere nahm aber dann doch noch einen großen Abschiedszug vom Dutzel, bevor er ihn dem Nikolaus aushändigen musste, wodurch ein feuchter, saftig mit Kinderspeichel benetzter Plastikkörper in die behandschuhte Obhut des Nikolaus wanderte. Da war ich ob der Handschuhe dankbar. Beim Umblättern aber tat ich mich genauso schwer wie mein Mentor.
Nach einem letzten Test und einigen Stimmübungen – mein Organ konnte ohne Verstellen nicht die satten Basstiefen meines Lehrer erreichen – marschierte ich in Begleitung meiner Führerin dann auch los ins erste Stockwerk. Mein Kompagnon, froh darüber in Stiefeln und Robe nicht Treppen steigen zu müssen, wartete mit Bedacht hinter verschlossener Tür, bis wir außerhalb des Blickfeldes waren. Mit federnden Schritten und geduckt, um nicht mit der hohen Mitra gegen eine der erstaunlich vielen und niedrigen Türschwellen zu stoßen, trottete ich mit eingeschränkten Blickfeld neben Brille und Haarlocken los. Mit Zunge und Lippen versuchte ich dabei den Bart neu zu sortieren, der sich hauptsächlich in und nicht um meinen Mund ausbreitete. Ich schmeckte Kunsthaar und fürchtete, dass mein eigener, dunklerer Bart hervorstechen könnte. Ich schwitzte. Weniger aufgrund der zugegebenermaßen vorhandenen Nervosität, denn aufgrund von Kissen, Robe, Mantel und Bart samt Perücke. Dafür aber bestand keine Zeit, da die Chefkindergärtnerin bereits die vorbereiteten Seiten in mein Buch klemmte, den Sack parat zog und mich mit einem freundlichem Lächeln und gehobenem Daumen vor der Zimmertür der Froschgruppe stehen ließ. Ich schnaufte kurz durch. Dann war ich ein Heiliger. Wie ich es gelernt hatte, klopfte ich kräftig mit dem Stab dreimal auf den Boden, wodurch in dem erstaunlich leisen Raum Unruhe entstand. Die Tür öffnete sich und gerade noch rechtzeitig duckte ich mich unter die erneut gefährlich niedrige Schwelle.
Drinnen saßen bereits alle erwartungsfroh im Stuhlkreis. Man hatte sie darauf vorbereitet, dass es gleich soweit sein würde.
Ja, grüß Gott. Bin ich da richtig in der Froschgruppe? <
Ein einhelliges, von manchen zaghaftes, von manchen mutiges >Ja< ertönte. Die Fräulein begrüßten mich und meine Amtspflicht begann. Ein Bub durfte den Bischofsstab halten. Mei, wie stolz war ich damals gewesen, als ich dem Nikolaus diesen Dienst erweisen durfte. Nun delegierte ich selbst diesen tragenden Dienst. Schnell lernte ich dabei, dass man den Kandidaten öfters wechseln sollte, wenn der Stab gefährlich zu schwanken begann und die Kräfte des Halters schwanden. Ich begrüßte die Kinder und erzählte von meinem Schlitten mit dem ich über Graseck und die Wälder, wo ich für die Tiere etwas in der Fütterung ausgelegt hatte, heute nach Partenkirchen gekommen sei und nur brave Kinder vor mit sah. Sogleich musste ich klarstellen, dass der Schlitten von Rössern und nicht von Rentieren gezogen wurde, die es im Bayerischen gar nicht gibt. Schließlich war ich auch aus dem Reintal und nicht vom Nordpol gekommen.
Nacheinander wurden die Kleinen mit eigentlich immer großen Augen und leisen Stimmen aufgerufen. Sie traten manchmal schüchtern, manchmal selbstsicher nach vorn. Selten musste geschimpft, oftmals der besagte Schnuller eingesammelt werden. Die Kinder sangen oder sagten Gedichte auf, viele überreichten Zeichnungen als kleine (Bestechungs-)Gaben, auf denen manchmal sogar der Nikolaus oder ein Tannenbaum zu erkennen waren. Ich blätterte mich mit einiger Anstrengung durch die Seiten, verteilte die Säckchen mit Nüssen, Mandarinen und Schokoladennikoläusen, hörte mir an, was aufgesagt und gesungen wurde und musste mich wieder verabschieden, weil ja noch so viele Kinder auf mich warteten.
Das mit Aufrufen und den Namen war dabei so eine Sache. Die freundlichen Helferinnen des Nikolaus notierten zwar genau und bei exotischeren Namen auch in Lautumschrift. So manches Mal aber musste mir doch geholfen werden, wenn auch der Dscheissn (Jason) schnell erkannt war. Meine Frage aber nach der kleinen Michele blieb unbeantwortet, bis ein sehr ernst schauender, blond umlockter Junge auf mich zukam und sich als Michele, also Mikele, wie man in Italien als Bub heißt, vorstellte. Ich entschuldigte mich mit dem Verwies darauf, dass auch Männer in Frankreich Michele heißen können und bat darum, künftig bei möglicher Uneindeutigkeit doch auch das Geschlecht für den Nikolaus zu notieren, um solche peinlichen Momente für einen allwissenden und alle Kinder kennenden Ehrenmann zu vermeiden.
Zwei Momente blieben mir in den Jahren dabei besonders in Erinnerung. Eine kleine Fevi mit Zöpfen und dem Festtagsdirndl, dass sie am sechsten Dezember unbedingt im Kindergarten tragen wollte, spielte mutig und solo für den Nikolaus auf der Ziehharmonika, die größer als das ganze Mädel zu sein schien „Ihr Kindelein kommet“, was die anderen andächtig beobachteten. Das Bild des kleinen, ernst musizierenden Mädleins blieb mir in Erinnerung. Sie wurde freilich besonders gelobt.
Ein anderes Mal steckte mir die Erzieherin, dass ein Mäderl aus der Türkei dem Nikolaus gerne ein Gedicht aufsagen würde. Ein schüchternes mandeläugiges Kind mit dichtem dunklen Haar trat vorsichtig nach vorn. Sie war erst im September nach Deutschland gekommen, machte gerade einen Deutschkurs und wollte ihre Fortschritte dem Nikolaus präsentieren; ist doch dieser Bischof auch aus der Türkei, war er doch in Myra in Kleinasien als Geistlicher tätig, also in ihrer alten Heimat und nun mit ihr zusammen in der neuen Heimat traf man sich wieder. Das Mädlein sagte das Gedicht vom braven Mann mit sicherer und fester Stimme auf und als Nikolaus war ich dankbar über Brille, Bart und Haar, musste ich doch einige Rührung verbergen, als ich bedachte, dass es sich in diesem Moment nicht um einen katholischen Brauch, nicht nur um das Christentum drehte, sondern um ein Mädchen, dass stolz ihre Fortschritte dem fremden Gabenmann zeigte, vor dem sie den gleichen Respekt wie alle Kinder hatte und die sich genauso über ihr Säckchen und die lobenden Worte freute.
Mit schweren Rücken, erhitztem Inneren, mit Bart im Mund und leicht schwankender Mitra absolvierte ich so die Hasengruppe, die Schwalben, die Füchse, die Dachse und viele anderen Tiergruppen und ärgerte mich, dass ich damals nur in der Gruppe sieben untergebracht war. Dazwischen gab es nur kurze Pausen, in denen mir von helfender Hand ein Schluck Tee gereicht wurde, der noch genauso dünn und kalt war wie zu meiner eigenen Kindergartenzeit. Als Dank für das sprichwörtliche Ehrenamt wartete am Ende eine Wurstplatte von der Metzgerei Wolff auf den Nikolaus, der froh und nass von der Wärme seine Tracht abstreifte. Über einige Jahre und mit wachsender Sicherheit durfte ich dieses hohe Amt erfüllen. Mit dem Studium und der Arbeit in München ging das dann leider nicht mehr, weswegen ich selbst einen Nachfolger empfehlen musste. Umso mehr aber freute ich mich, als meine Münchner Agentur auch den Nikolaus ins Programm nahm. Unter veränderten Vorzeichen ging ich wieder in Amt und Würden; dieses Mal auf Wunsch sogar mit Krampus, den eine zierliche die reizende Schauspielkollegin Mona mit der genau richtigen Mischung aus Wildheit und Zurückhaltung verkörperte. Ein vergleichsweise einfaches Gewand wartete auf mich und ein Mietwagen, der uns mithilfe eines Navigationssystems quer durch die Stadt und das Umland geleitete. Die Agentur aber nahm jeden bezahlten Auftrag an, was uns als Duo doch in seltsame Situationen brachte.
Als wir zur Weihnachtsfeier eines Maschinenbauers in der Drygalski Allee erschienen, wurde uns ebenfalls ein goldenes Buch über den Vorstand und den Firmenchef ausgehändigt. Ein gealterter Patriarch mit geröteten Wangen und noch immer großem Respekt versicherte darauf dem Nikolaus und dem mit der Rute schwingenden Krampus, dass er bald wieder schwarze Zahlen schreiben werde. > Das werde schon werden <, versicherte ich ihm mit schlechtem Gewissen und der Hoffnung, dass der Wunsch des heiligen Mannes Wahrheit werden sollte.
Telefonisch versicherte man uns darauf, dass zum Geburtstag des kleinen Moritz am Luise-Kieselbach-Platz eigentlich nicht der Nikolaus erscheinen sollte, sondern der coole Captain Nic. Schließlich liebte der Moritz Piraten und es sei eine Kostümfeier. Nach kurzer Absprache mit meinem Krampus entschieden wir uns gegen dieses Sakrileg, der die Position des heiligen Nikolaus in die Nähe einer Rolle oder eines Kasperls geführt hätte. Der Nikolaus bleibt eben der Nikolaus.
Angekommen an der Haustür klingelte diesmal der Krampus, um den man bewusst gebeten hatte. Geöffnet wurde die Tür vom kleinen Moritz, nicht älter als sechs, der mit einem lauten Schrei des Entsetzens, als er den Krampus erblickte, die Tür auch postwendend wieder zuknallte, wodurch der Nikolaus mit seinem Helfer zunächst einmal draußen bleiben musste. Hereingelassen wurden wir dann schließlich und nach kurzer Unruhe im Inneren vom Freund von Moritz‘ Mama. Das Geburtstagkind lag währenddessen greinend am Boden, drehte sich und klagte lautstark:
Der Krampus! Der Krampus! <
Keine Sorge, ich bringe ihn in den Garten. <, versuchte der Freund der Mutter als Bewerber um den Posten des Mannes im Haus die Situation zu klären.
Nein! Nicht in unseren Garten! <, schrie Moritz voller Inbrunst und Angst, die uns beide rührte. Kurzum wurde der Krampus in den Garten verfrachtet, der Freund bot meiner Kollegin Mona dort Kaffee an, den sie, unglücklich über ihre zugegebenermaßen überzeugende Darstellung, ablehnte. Mittlerweile weinten nicht nur das Geburtstagkind, sondern mehrere kleine Feiergäste und als Nikolaus stand ich inmitten verkleideter, vom Krampus geängstigter Piraten, die unsicher in den Garten schielten, wo sich der Krampus Mona duckte, um aus dem Blickfeld der Kinder zu verschwinden. Ich sagte mein Sprüchlein auf, versicherte den sich langsam beruhigenden Kindern, dass ihnen der Krampus nichts tun würde und dass ich der heilige Nikolaus und wirklich nicht der coole Captain Nic sei, wobei die Mutter mit Augenklappe und Piratentuch kritisch dreinblickte. Ich ermahnte Moritz, künftig nicht so viel auf dem Tablet zu spielen, verteilte meine Gaben und verabschiedete mich der Schwierigkeit bewusst, den Krampus quer durch die unsichere Kinderschar im Wohnzimmer wieder aus dem Haus und ins Auto zu bekommen. Mit einem Trick lockte ich die Kleinen ins Kinderzimmer, wo sie gleich mit einer Piratenrallye fortfahren sollten, so dass sich Mona mit dem seltenen Wunsch des Schauspielers, nämlich nicht gesehen zu werden, durch den Flur nach draußen stahl.
Nix für ungut. <, verabschiedete uns der Freund. Im Auto hatten wir noch immer ein schlechtes Gewissen. Der Auftritt darauf bei einer feuchtfröhlichen Stammtischrunde in einer Kneipe geriert glimpflicher, wenn auch hier der Respekt vor Rute und Bischof zu wünschen ließ. In einer Pause schauten wir bei den überachtzigjährigen Großeltern meiner damaligen Freundin vorbei, die den Krampus Mona wieder glücklich stimmten, nachdem sie ihr versicherten, wie wild und wie schön sie dabei ausschauen würde, mit dem Pelz und dem Fell, dem schwarzen Gesicht, der Kette und dem buschigen Schwanz. Sie wollten uns gar nimmer gehen lassen, hätten sie doch nie gedacht, dass in ihrem Alter noch einmal der Nikolaus, der ihnen so bekannt vorkam, vorbeischauen würde. Auch meine Freundin durfte damals auf dem Schoß des heiligen Mannes sitzen, der ihr verständlich befremdlich vorkam.
Unsere lange Tour endete damals am Abend und nach dem Dunkeln in Weßling bei einer Familie am Stadtrand. Der Krampus musste diesmal im Auto warten. Im goldenen Buch war kein Tadel verzeichnet, nur ein schöner Satz, dass die Eltern so froh darüber seien, ihren kleinen Spatz zu haben und dieser so brav sei, dass der Nikolaus gar nicht zu schimpfen brauche und es für den Krampus erst recht keine Verwendung gäbe. So stand ich am Ende eines seltsamen Tages im Kreise einer kleinen Familie, die für mich sang, der kleine Spatz sagte ein Gedicht auf, bedankte sich artig und begleitete den Nikolaus noch zur Tür, wie man das halt machte, wenn man brav war. In dem Moment fühlte sie das wichtige Amt wieder nach Würden und nach Ehren an. Der Spatz aber eilte zurück, weil er noch etwas vergessen hatte. Seinen Schnuller wollte er dem Nikolaus noch mitgeben, den brauche er jetzt nimmer, weil er ja schon groß sei. An diesem Tag aber und an diesem späten Abend trug ich als Nikolaus keine
Übers Lesen, Vor- und Verlesen.
Geschrieben am 25.04.2017
Immer wieder und im meinem Fall seit kurzem gehäuft liest der Schauspieler szenisch, konzertant, halbseiden, halbszenisch, ganz vom Blatt, halb auswendig, komplett frei, eigeninterpretatorisch, immer gleich, ganz verquer, für sich - selber fremd, gewandt oder lesefreudig.
Die Lesung boomt.
Dabei gibt es die verschiedensten Taktiken, anderen Menschen etwas lesend vorzumachen.
Einige Kollegen lesen den Text grundsätzlich nicht vorher, da die eigene gute alte Taktik der Überartikulation so wunderbar funktioniert, dass einem die pathetischen Pausen genügend Zeit liefern, um den nächsten Halbsatz zumindest ansatzweise zu durchdringen. Diesen Kollegen sei Kleist nicht geraten. Dante funktioniert auf diese Weise erschreckend gut.
Ältere Kollegen, die seit Dekaden mit Balladen touren, halten sich an der Glocke nur mehr fest, um das jüngere Publikum mit der eigenen Textsicherheit nicht zu sehr zu verschrecken, gehörte es doch zu ihrer Zeit noch zum guten Ton den Franz parallel mit dem Karl zu lernen und doch wohl zumindest die Vorrede im launigen Kollegenkreis frei interpretieren zu können.
Nächste Schwierigkeitsstufe ist der literarische Spaziergang, der hübsch Poetisches mit hart Marschierendem vereinbart. Nicht der Atem muss dabei eingeteilt werden, sondern das Skript mit dem eigenen Schritt und dem der Gäste zu vereinbart werden, damit am Ende noch alle stehen, alle hören und keiner außer den Buchseiten umknickt.
Der literarische Wanderer eignet sich auch für Bergesgeschichten.
Dann gibt es den Fuchtler, sprich Kollegen, die nicht nur die syntaktischen Zusammenhänge, sondern auch die eigene Weltdeutung auch bei Schnitzlerlesungen mit dem Prometheusgriff dem Himmel entgegen so klar unterstreichen, dass etwaige Lesefehler durch die emporgereckte Faust auch bei der gleichnamigen Teilkomödie nur mehr den Basisgermanisten auffallen.
Eine besondere Herausforderung bieten Lesungen vor Kindern, die, egal welcher Text und sei es das Telefonbuch, ganz emphatisch befiebern, arbeitet der Leser mit kieksender und tiefer-tüfer, mit plärriger und hauchiger Stimme oder am besten mit allem zugleich. Gefallsucht, Chargieren und Übertreibung fällt bei den kleinen Kritischen dabei schnell durch.
Dann lieber den Tell beim Tantentreff wo große Geste und kleine Schnörkel noch geliebt werden. Größte Freude bereitet es freilich, einmal eigene Texte in großer Runde vortragen zu dürfen. Auch sie bedürfen trotz der Autoren-Akteurs-Analogie scharfe Regie und lange Vorbereitung. Doch dann schüttet man sein Innerstes heraus, das man zuvor zu Papier und damit zu Schönheit gebracht hat. Man schreibt und liest und schrieb und spricht und spielt dabei Eigenes für Andere. Dabei kann man sich gar nicht mehr verlesen, sondern nur mehr ins Literarische verlieben.
Dann boomt die Lesung.
Online K(c)asten
Geschrieben am 25.04.2017
Nach den Worten zum Werben, beziehungsweise eigentlich vor dem zur Werbung werden, muss man erst einmal geworben werden und wichtiger noch: genommen werden.
Das passiert beim Casting. Oft genug in einer kleinen Agentur mit einem Kamera-Casting durch einen Redakteur, der eigentlich immer alles gut findet, was man halt so anbietet.
„Du bist in einer Raumstation und arbeitest schwerelos an deinem Tablet“, kann es dann schon mal in einem Bogenhausener Hinterhof heißen. Hebt man halt ab, wenn man den Job will. Und glauben sie mir: Man will immer den Job.
Manchmal aber schicken sie dir neuerdings nur eine Anleitung mit einigen Storyboards und dann darfst du via Online-Casting selber ran.
Schnapp dir eine Kamera und selfie dich zum Engagement. Im besten Falle betätigt jemand aus dem näheren Freundeskreis, der sich ohnehin nicht für dich schämt und die notwendigen Selbstbewerbungskniffe dieses Jobs kennt, den Trigger. Denn der brave Kamerateur hält drauf, während du dich meist gleich zweisprachig anbiederst und darlegst, warum eben natürlich und gerade du und sowieso, weil es ideal passen würde, für diesen Rasierer werben oder diesen Lover geben möchtest. Dann kann es sein, dass du einfach noch ein paar Impressionen von dir hinterherschickst. Wieder mal Profil und Händchen vorzeigen.
Also erneut das Knipskisterl scharf gestellt. Vormittags in den Smoking, Hollerschorle den Champanger doubeln lassen – wobei viele Kollegen, na ja, egal… – und hinein in den erwünschten Jetset-Abend. Dann flirtest du umwerfend mit deiner Heimkamera, der Abdrücker kugelt sich oft schon hinter der Linse am Boden. Du gibst alles: Latino, Clooney, 007, Andy Borg, was halt erwünscht ist, während da nur das kleine Urlaubsknipsding auf einem Stapel Brockhäusern steht und entscheidet, ob du den Job bekommst, oder eben nicht.
Dann das übliche Paket geschnürt, rüber über die Cloudwolke und an deinen Agenten und weiter an den Kunden und der klickt dich dann an, denkt sich „schöne Wohnung“ oder „miese Kameraqualität“, dem fällt dann vielleicht dein Gesicht auf und ihm gefällt vielleicht der Augenaufschlag und schon katapultiert dich der Freizeitfotoapparat in ein richtig gutes Set mit ein paar schönen Drehtagen oder du justierst ihn schon fürs nächste Onlinevorsprechen, für den heißen Draht, für den nächsten Versuch, von deiner vor eine richtige Kamera zu kommen.
Technix
Geschrieben am 25.04.2017
Wenn der Computer ausfällt, stürzen Spaceshuttles ab, Regierungen wanken, die Wall Street bricht zusammen und - laut 007 - können sogar Kriege vorprogrammiert sind.
Jeder Schauspieler, der von der Technik abhängig schon einmal einen von tausend Bühnentoden starb, kann diese Szenarios vielleicht ein wenig besser nachvollziehen. Denn egal wie gut, wie geprobt, wie deppensicher und wie elaboriert – die Hure Technik ist eine untreue Geliebte und hat uns alle schon oft lange vor dem Koitus verlassen.
Nicht einmal zum Vorspiel kam es bei einer Titelrolle, für die ich eigentlich in die Rolle versunken auf der Bühne kauerte. Tränend, in die Emotion und das Drama vergraben wankte ich vor mich hin. Nur ging weder Musik noch Tonbandprolog, weshalb zwei Techniker und noch mehr Verbalhelfer fluchend durcheinanderredeten während sich schlichtweg eine Ewigkeit gar nichts tat und das Publikum langsam unruhig wurde. Man würde ja gern raus, die Stimmung und die Atmosphäre retten, doch wenn wer den Hauptschalter vergisst oder der Kabelgott streikt, hilft das gar nichts. Irgendwann waren die Tränen echt. Mehr als peinlich auch das zärtliche Nachspiel eines kürzlichen Videoepiloges wobei aus unerfindlichen HD-Gründen der Bildschirm schwarz blieb, der Ton dafür tadellos abgespult erklang. Da wurde das Publikum dann zu zwölf Minuten Hörspiel verdonnert, da sich das Video halt entschied bei dieser Vorstellung nicht aufzutreten.
Bei einer großen modernen Oper sollte das titelgebende Haus am Ende unter Drehungen im Bühnenrund versinken – ein toller Effekt und eine Schlusspointe, die dir als Zuschauer im Gedächtnis bleibt. Nur steckte in der Drehsenkbühne immer irgendwas fest, so dass relativ oft das Haus am Ende zwar ätherisch kreiste, nur halt nicht versank und da noch immer stolz stehen würde, hätte man die Produktion nicht irgendwann abgesetzt. Bei der Playbackoperette singen irgendwann mal alle a cappella, die Videoprojektionen laufen rückwärts, in kompletter Finsternis ruht sich der Verfolgerscheinwerfer ein wenig aus…
Die Liste ließe sich meist unter aufgerissenen Augen ob des Erinnerungsschocks fortführen, denn man weiß, das nächste Shuttle, der nächste Crash, der nächste Krieg und Tod wird kommen, bis wir wieder total analog unter freiem Himmel mit Steinen spielen werden.
Dann aber wird es regnen.
Körperkontakt
Geschrieben am 20.05.2016
Als Schauspieler muss man ertragen, dass an einem herumgefummelt wird. Damit meine ich gar nicht emotional durch die Kritik oder das Herumgezerre zwischen Vorsprechen und Vorsprechen. Ich meine die haptische, direkte, körperliche Erfahrung des Betatschens, Begutachtens und Befühlens des Arbeitskörpers Schauspieler.
Das beginnt logischerweise in der Schneiderei, wo gewandte Schneidersdamen und –herren das Kostüm grundsätzlich erst am und leider zu oft im Körper feststecken, annadeln oder provisorisch antackern. Dabei werden Falten zurechtgerückt, der Sitz händisch geprüft und nicht selten glattgestrichen und festgehalten. Selbst für einen heterosexuellen Mann ist das nicht erotisch, sondern sehr technisch; vor allem, wenn die Kostümbildnerin den Sitz der Hose mit den Maßen aus der Kartei kritisch vergleicht und schmunzelnd rauslassen lässt, oder wenn dem Tierstatisten ein gummiverstärkter, bodenlanger Geckoschwanz angepasst wird, der gefälligst beim Über-die-Bühnerolle achtsam bewegt und nicht angebrochen werden soll. Dann fühlt man sich nicht selten als Kleiderpuppe einer grausamen Dreijährigen, die großen Spaß hat, ihr Spielzeug zu verunstalten.
Das (Schau)spielzeug wird dann zum Zwecke der Kunst eine Station weiter in die Maske geschickt. Nun wird je nach Inszenierungsart vornehmlich das Gesicht bearbeitet oder der ganze Körper beschmiert. „Soll ich den Pickel übertünchen oder blutet der?“ sind eine der Fragen, die das massive Problem der eigenen Körperwahrnehmung eines Akteurs nur unterstützen. „Sollen die Bartansätze gleich weg?“ schmerzt ebenfalls nach wochenlanger Züchtung vor einem historischen Dreh und oft genug erwehrt man sich seiner zarten oder unreinen Haut oder der wenigen Haare, wenn ein rigoroser Kostümbildner bereits Schwamm und Schere schwingt. „Der Regisseur wollte das aber genau so...“, hilft nur bedingt, wenn selbiger am Set bereits anwesend ist. Dafür spart man sich im Idealfall Barbier und Frisör.
In größeren Häusern helfen dann meist mehr als zwei Hände und flinke Damen und Herren in der Rolle der Ankleider bei schnellen Umzügen auch gerne im öffentlichsten Raum auf der Seitenbühne. Da wird man dann blitzschnell – auch als Mann – ins Korsett gezwängt, im Schritt der Reißverschluss justiert oder gleich Hosen samt Schuhen und Socken heruntergerissen, während andere Hände an der Krawatte fummeln. Nach 30 Sekunden Intimprodzedur und einem freundlichen Schubs ist die zweite Rolle dann schon wieder auf dem Flug durch die Bühnentür. Abgegriffen, doch grunderneuert und erstaunlich verändert! – Ui noch ein neuer Schauspieler.
Wieder eine Station weiter wirft man alle seine Pfunde und Gesichtsmuskeln ins Mimenrennen auf der Bühne. Nackt? Kein Problem, dann aber schnell noch ins Solarium! Bart? Okay, der Mastixduft in der Nase erleichtert die Heulerei im zweiten Akt. Das Gesicht in den Rock der Partnerin vergraben? Höchste Vorsicht sei geboten, wenn es sich um dunkle Stoffe handelt und das eigene Gesicht deutlich farblich aufgebessert wurde! „Wehe du beschmierst mich mit der Grundierung! Nur auf deinen Arm, ja! Kein Kontakt mit meiner Kleidung!“ Oh ja, dadurch wird auch der intimste Schoßkontakt sehr technisch, um keine ungewünschten Farbspiele zu erzeugen.
Dafür ist der Lohn einer leidenschaftlichen Kussszene gerne die Wimperntusche auf der eigenen Wange, die wie Kriegsbemalung von der theatralen Eroberung und Leidenschaft der Körperinteraktion erzählt. Im selbstreferenziellen Theater kann diese Körperakt-ionskunst auch der leuchtend rot gedroschene, nicht getrickste, sondern echt versohlte Popo des männliches Darstellern sein, und der Körperkontakt und –einsatz ampelhaft dem Publikum entgegenfunkelt - wie das Hinterteil von Shenja Lacher, dass Castorf im Resi in München gerade analog wie wund hauen liess.
Aufgeschlagene Knie sind sowieso normal, auch Schrammen, Kratzer, Ellbogenkerben von Kollegen oder etwas echtes Blut, wenn die Bühne mal wieder vor dem Barfussauftritt als Engel bei Ludwig Thoma nicht auf Reißnägel abgesucht wurde. Besagter Reißnagel wurde später übrigens vom Bühnenbildner zur weiteren Verwendung zurückgefordert. Schmerz ist temporär, Kunst ewig! – ein Motto, dass nicht nur für körperliche Dreharbeiten in Hollywood gilt. Nach einer mordernen Tanzproduktion hätte ich ein halbes Jahr als misshandelter Ehemann durchgehen können, so blau leuchteten meine Gliedmaßen. Schlimm? Ne, effektvoll!
Außerdem heilen mit dem Applaus automatisch alle Wunden. Am Ende reißt man den Bart wieder von der gereizten Haut, wischt Kajal aus den Augen und stülpt die Perücke über den Lagerkopf, versorgt die Wunden, wäscht sich und kehrt in Alltagskleidung und leider ohne Hilfe zurück ins echte Leben.
Im besten Falle folgt dann jedoch der schönste Körperkontakt des Theaters: Ein Hand- oder Schulterschlag des Zuschauers oder der Zuschauerin als haptische und bis unter die Haut gefühlte Kontaktbelohnung für die Körperarbeit.
Garderoben
Geschrieben am 20.05.2016
Es ist erstaunlich, wie viel Zeit man mit und in der Vorbereitung zum eigentlichen Auftritt verbringt. Ähnlich wie beim Gepäckbank am Flughafen oder im Wartezimmer des Arztes nimmt dabei die Garderobe des Künstlers - neben der Kantine und der Hinterbühne - den zentralen Aufenthaltsraum vor dem Auftritt ein. Allerseltenst bewohnt man diese allein. Was auch sehr einsam sein kann. Meist und vor allem auf Gastspielen drängt sich dort auf engen Raum das ganze Ensemble oft auch nicht geschlechtergetrennt zusammen, um übereinandergestapelt mit einem Teilblick auf den Spiegel noch kurz das Gesicht und den Kragen für das Stück zu richten. Besonders liebe Veranstalter bessern die Stimmung gescheiterweise mit Butterbrezen oder selbstgemachten Keksen auf, in guten Stätten liegen dort alle Necessaires der Maske schon zur freien Verfügung aus. In besonderen Locations sitzt man allerdings auch schon mal zu siebt in einem Baucontainer vor dem Hallentor zum sympathischen Summen des Elektroheizgeräts und dem penetranten Regenprasseln auf dem Blechdach oder noch schlimmer in Hörweite offen hinter der Bühne, was jegliche private Unterhaltung oder Freizeitgestaltung zwischen entfernteren Auftritten konsequent unterbindet.
Bei einem Festengagement wird einem typischerweise ein fester Platz mit festem Maskenkoffer zugewiesen, der nicht selten neidisch und stringent gegen Neulinge, die auch gerne einmal im Koffer herumwühlen, verteidigt wird. Zweimal gelang mir der große Clou aufgrund von massivem Herrenüberhang in das versteckte, vorhangverdeckte, geheimnisvolle Elysium der Damengarderobe hinübergebucht zu werden. In Gedanken schweben dort nicht bekleidete Akteursschönheiten umher, kichern und stauben mit Puder. Es roch so fein, allerlei Tand, Perücke und Stola breitete sich über die Kostümständer und der Hauch des Exklusiven, Verbotenen umgarnte das Männerherz. Einmal schmuggelte mich sogar die Soubrette ins Allerheiligste, dem Manne ansonsten niemals Zugängliche, wo Strumpfhalter und beidseitiges Klebeband mit Rouge und falschen Wimpern den Divenzauber bereiten.
Den eigenen, männlichen wie weiblichen Fleck stattet man nach Möglichkeit gemütlich aus. Die Nippes-Sammlung aus vielerlei Toitoitoipackerln, die vielen Erinnerungsfotos - gerade älterer Kollegen oft der eigenen jugendlichen Vergangenheit - rahmen oft ein mehrstöckiges Papiertheater um den fleckigen Schminkspiegel herum. Daneben die kahlen oder behaarten Perückenköpfe mit ihrem immer gleichen kalten Styroporausdruck, hat sich niemand erbarmt und ihnen ein Gesicht gemalt.
An diesem kleinen Flecken kann ich dann noch einmal ernst mit mir zu Gericht gehen, die Grundierung für den Abend anlegen, die Pointen am Wangenknochen nachziehen, die Dramenfalten glätten oder furchen und oftmals eine Rolle mit ein paar Pinselstrichen erschaffen. Dann überprüfe ich meinen Charakter, steige in mein Kostüm, ver(un)gewissere mich und verlasse das Buben- oder Mädchenstübchen über die Treppe oder Ecke zum Auftritt und das Warten am Band, im Zimmer, vorm Garderobentürl hat ein Ende. Dann muss man hinaus und danach wieder zurück in die Heimat vor dem Schminkspiegel oder die große weite Welt an der Rampe.
Geliebte Requisite
Geschrieben am 19.05.2016
Die Germanistik liefert Regalmeter über den bewussten Einsatz von Requisiten, von Ringen, Briefen, Dolchen oder Schmuck. Das alles hilft leider gar nichts, wenn das verflixte Ding vor seinem Bühneneinsatz nicht auf seinem Platz ist! Ehen scheitern an verlegten Ringen, Morde an vergessenen Messern und Besäufnisse an nichtgefüllten Gläsern, wenn die Requisite patzt. Oder natürlich der Schauspieler.
Bei kleinen Häusern richtet man sich grundsätzlich selbst sein Zeug vor der Vorstellung her – vergisst man es, muss man dann in den intimsten und oder peinlichsten Momenten schnell mal kurz verschwinden, um den notwendigen Liebesbrief von den Hinterbühne zu holen. So ist es Bruno Jonas als Don Quijchote am Gärtner passiert, was ihn allerdings nicht weiter störte, sondern zu einem kabarettistischen Intermezzo über die Requisite verleitete. Ein Kollege verzichtete dagegen auf seine Mordwaffe in der „Mausefalle“ und ging anstatt mit dem fehlenden Revolver, der sich verflixterweise auch nach längerer Suche nicht in der Anoraktasche finden ließ, würgend mit beiden Händen auf die Kollegin los. Ihre Verwunderung und Angst war an keinem Abend mehr so real, wie an diesem. Gott sei dank reagierte der eingreifende Polizist auch in dieser Vorstellung rechtzeitig, da die zudrückenden Daumen sicher mehr Schaden als die ungeladene Schreckschusspistole angerichtet hätten. Vor allem wenn es sich um eine typische Kollegin handelt!
Nicht nur Vergesslichkeit auch die Art der Requisitenzubereitung kann mitunter zu Problemen führen. Freut sich noch jeder Opernchor über Essbares bei Mahlszenen („Fresst nicht gleich alles bei der Ouvertüre weg!“), so fällt ein durstiger Statist wie in Stückls „Dreigroschenoper“ am Münchner Volkstheater nur zuleicht über die Freude eines frischen Bühnenbieres aus der Rolle. Selbiger zuzelte sein Bier bei der MeckiMesserHochzeit dermaßen genußvoll, dass ihm die seltene Statistenehre gebührte, die alleinige Aufmerksamkeit des Publikums neben nebensächlicher Trauung zu erlangen.
Im Boulevard auf kleiner Bühne sollte ich etwa 30 Vorstellungen lang eine Cola kippen – Jugendjargon der späten 60-er. Aus Kostengründen wurde diese jedoch mit Zuckercouleur getrickst, der zähflüssigen braunen Lebensmittelfarbe mit Sacharinnote zur Färbung von Soßen. Ein Tropfen in genug Wasser erzeugt Weißwein, etwas mehr Rosé, noch mehr Bordeaux und in Massen zum Colabrauen - Grausen. Ab der 3. Vorstellung nippte ich nur mehr am braunen Trank.
Vorsichtig wurde ich zudem mit intransparenten Flaschen nachdem in eine Champagnerflasche in der „Fledermaus“ mehrere Zigarettenkippen der letzten Feier anstatt reinem Bühnenwasser für den Perlweinakt schwamen. Unvergessen auch der Versuch dem Boandlkramer des „Brandner Kasper“ echten Enzian unterzujubeln – von dem der naive Tod bekanntlich 12 Stamperl auf der Bühne vernichten sollte. Leider kam uns der Kollege selbst bei der Derniere drauf und blieb beim Gebirgsselters. Als dann noch mein Jagdstutzen abhanden ging, feuerte ich aus allen Rohren einer – üblicherweise verdeckten Schreckschusswaffe und es gelang ein Highnoon am Blauberg.
Requisiteure sind Meister des Bauens, Tricksens, die Leute an den Neblern, die Regenschirme im Eimerchen abwaschen, damit sie auf der Bühne tropfen und wahrlich Schaumschlagen können ohne schmutzige Wäsche zu waschen. Sehr bedacht sind sie dabei natürlich ob des Wohls ihrer kleinen Erfindungen. „Mach das bloß nicht kaputt! Das haben wir nur einmal!“ klang vielleicht nur bei 007s Quartiermeister Q ebenso oft und bestimmt, wie von den sonoren Stimmen der ordnenden und konservierenden Requisite. Nicht zu unterschätzen ist nämlich die Spiel- und Ärgerfreude der Kollegen. Jeder Junge spielt gern mit Schwertern und Pistolen. Bei einigen Bühnenkämpfen wird das zum Selbstzweck. Schauspieler sind und bleiben eben Kinder, weshalb die Theaterwissenschaft vielleicht der Requisitentheorie der Dramatiker eine ganz neue Spielttriebsdiskussion des Schauspielers und seiner geliebten Requisite folgen lassen sollte!